Nationalsozialismus und Kolonialismus

Der Barbie-Prozess als Urszene konkurrierender Erinnerung. Vortrag von Dr. Jan Gerber

Am 11. Mai 1987 wurde im französischen Lyon ein aufsehenerregender Prozess eröffnet. Klaus Barbie, der frühere Gestapo-Chef der Stadt, wurde vor Gericht gestellt. Der Prozess war Ausdruck der neuen Aufmerksamkeit, die dem Holocaust nach den Jahren des Schweigens seit Ende der Siebziger entgegengebracht wurde. Barbie war der erste, der in Frankreich wegen eines Verbrechens gegen die Menschheit angeklagt wurde – wegen jenes Tatbestands, der 1945 in Vorbereitung der Nürnberger Prozesse völkerrechtlich verankert worden war.

Der Prozess stand jedoch nicht nur für die neue Einsicht, dass der Holocaust das „Hauptereignis des Nationalsozialismus“ war, wie Claude Lanzmann einmal formulierte. Durch das Verfahren wurde zugleich deutlich, wie prekär diese Erkenntnis ist.

Der Barbie-Prozess war eines der ersten größeren Ereignisse, bei dem versucht wurde, die Verbrechen des Kolonialismus gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus auszuspielen. Barbies Verteidiger, der als Ikone des antikolonialen Kampfs geltende linke Aktivist Jacques Vergès, erprobte eine im Wortsinn postkoloniale Verteidigungsstrategie. Er sprach der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich das Recht ab, über Barbie zu urteilen und setzte Kolonialismus und Nationalsozialismus durchgängig gleich.

Vermittels dieser Urszene konkurrierender Erinnerungen soll im Rahmen des Vortrags einigen der Hintergründe und Ursachen jener postkolonialen Holocaust-Relativierungen nachgegangen werden, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben – und die im Unterschied zur Zeit des Barbie-Prozesses längst zum akzeptierten Bestandteil der Debattenkultur geworden sind.

Jan Gerber ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er ist Autor, Herausgeber und Mitherausgeber mehrerer Bücher zur Gedächtnisgeschichte des Holocaust und der politischen Linken. Zuletzt von ihm erschienen: Das letzte Gefecht. Die Linke im Kalten Krieg, erweiterte Neuauflage, Berlin 2022; Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust, Göttingen 2022 (herausgegenen zusammen mit Anna Pollmann und Philipp Graf); Die Untiefen des Postkolonialismus. Schwerpunkt, in: Hallische Jahrbücher 1 (2021) (als Herausgeber).

Dienstag, 14.11.2023, 19 Uhr in der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, Birkenstraße 20/21

Eine Veranstaltung des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bremen im Rahmen der Aktionswochen gegen Antisemitismus Bremen 2023

Leseempfehlung: »Lockerung der Verengungen« von Jan-Georg Gerber

Die Rede von der Singularität des Holocaust schaffe »Opferkonkurrenz« und »Aufmerksamkeitskonflikte«: Michael Rothberg fordert in seinem Buch »Multidirektionale Erinnerung« ein neues Gedenken ein. Ein Vorbild findet er in den Debatten der fünfziger und sechziger Jahre. Das Wissen um die Besonderheiten der Judenvernichtung steht dabei im Wege.